Die tarifbegünstigte Veräußerung einer freiberuflichen Einzelpraxis

Die tarifbegünstigte Veräußerung einer freiberuflichen Einzelpraxis (§ 18 Abs. 3 i.V.m. § 34 EStG) setzt voraus, dass der Steuerpflichtige die wesentlichen vermögensmäßigen Grundlagen entgeltlich und definitiv auf einen anderen überträgt. Hierzu muss der Veräußerer seine freiberufliche Tätigkeit in dem bisherigen örtlichen Wirkungskreis wenigstens für eine gewisse Zeit einstellen[1].

Die tarifbegünstigte Veräußerung einer freiberuflichen Einzelpraxis

Die „definitive“ Übertragung des Mandantenstamms lässt sich erst nach einem gewissen Zeitablauf abschließend beurteilen. Sie hängt von den objektiven Umständen des Einzelfalls ab, die das Finanzgericht als Tatsacheninstanz zu würdigen hat. Neben der Dauer der Einstellung der freiberuflichen Tätigkeit sind insbesondere die räumliche Entfernung einer wieder aufgenommenen Berufstätigkeit zur veräußerten Praxis, die Vergleichbarkeit der Betätigungen, die Art und Struktur der Mandate, eine zwischenzeitliche Tätigkeit des Veräußerers als Arbeitnehmer oder freier Mitarbeiter des Erwerbers sowie die Nutzungsdauer des erworbenen Praxiswerts zu berücksichtigen.

Daher kann die Wiedereröffnung einer Einzelpraxis – unter Berücksichtigung der weiteren Umstände des Einzelfalls – der Annahme eines tarifbegünstigten Veräußerungserlöses entgegen stehen.

Gemäß § 18 Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG gehört zu den Einkünften aus selbständiger Arbeit auch der Gewinn aus der Veräußerung des ganzen Vermögens, das der selbständigen Arbeit dient (Praxisveräußerung). Für diesen Veräußerungsgewinn sieht § 34 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1 EStG eine Tarifbegünstigung vor.

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH setzt die Veräußerung einer Praxis voraus, dass der Steuerpflichtige die für die Ausübung der selbständigen Tätigkeit wesentlichen vermögensmäßigen Grundlagen entgeltlich auf einen anderen überträgt. Hierzu gehören insbesondere die immateriellen Wirtschaftsgüter der Praxis wie Mandantenstamm bzw. Praxiswert[2].

Darüber hinaus muss der Veräußerer nach der Rechtsprechung des BFH seine freiberufliche Tätigkeit in dem bisherigen örtlichen Wirkungskreis wenigstens für eine gewisse Zeit einstellen[3]. Diese Forderung nach einer zeitweiligen Einstellung der freiberuflichen Tätigkeit beruht auf der Überlegung, dass bei fortdauernder Tätigkeit des Freiberuflers in seinem bisherigen örtlichen Wirkungskreis eine weitere Nutzung der persönlichen Beziehungen zu den früheren Mandanten auf eigene Rechnung des „Veräußerers“ nahe liegt und es dadurch nicht zu einer definitiven Übertragung der wesentlichen Betriebsgrundlagen der Praxis auf den Erwerber kommt[4]. Sie dient somit der Abgrenzung zwischen den tarifbegünstigten Veräußerungsgewinnen und den nicht begünstigten laufenden Einkünften[5].

Die „definitive“ Übertragung der wesentlichen Betriebsgrundlagen, insbesondere des Mandantenstamms, hängt letztlich von den Umständen des Einzelfalls ab, die das Finanzgericht als Tatsacheninstanz zu würdigen hat. Neben der Dauer der Einstellung der freiberuflichen Tätigkeit sind insbesondere die räumliche Entfernung einer wieder aufgenommenen Berufstätigkeit zur veräußerten Praxis, die Vergleichbarkeit der Betätigungen, die Art und Struktur der Mandate sowie die Nutzungsdauer des erworbenen Praxiswerts zu berücksichtigen[6].

Wird der Veräußerer als Arbeitnehmer oder als freier Mitarbeiter im Auftrag und für Rechnung des Erwerbers tätig, ist dies grundsätzlich unschädlich, da der Erwerber trotzdem zivilrechtlich und wirtschaftlich in der Lage ist, die Beziehungen zu den früheren Mandanten des Veräußerers zu verwerten. Zwischen dem Veräußerer und seinen früheren Mandanten bestehen keine Rechtsbeziehungen mehr[7]. Darüber hinaus ist es auch unschädlich, wenn der Steuerpflichtige seine bisherige freiberufliche Tätigkeit nur in einem geringen Umfang fortführt[8].

Der Bundesfinanzhof hält an dieser Rechtsprechung fest.

Insbesondere widerspricht das Kriterium der Einstellung der freiberuflichen Tätigkeit im bisherigen örtlichen Wirkungskreis für eine gewisse Zeit nicht dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung. Vielmehr handelt es sich um eine Auslegung des Begriffs der „Veräußerung des Vermögens“ in § 18 Abs. 3 EStG unter Berücksichtigung der besonderen Natur des Wirtschaftsguts Mandantenstamm. Die für die Veräußerung des gesamten Vermögens erforderliche definitive Übertragung des Mandantenstamms kann letztlich nur nach einem gewissen Zeitablauf abschließend beurteilt werden. Dies gilt insbesondere für freiberufliche Tätigkeiten, die in einem besonderen Maß personenbezogen sind und bei denen sich deshalb die persönlichen Beziehungen des Erwerbers zu den bisherigen Mandanten des Veräußerers erst entwickeln bzw. festigen müssen. Dadurch ist der Mandantenstamm ein „flüchtiges“ Wirtschaftsgut, dessen dauerhafte und endgültige Übertragung auf den Erwerber verhindert werden kann, indem der Veräußerer seine freiberufliche Tätigkeit fortführt bzw. wieder aufnimmt. Dies gilt unabhängig davon, dass es in jedem Fall die Entscheidung der Mandanten bleibt, von wem sie sich weiter beraten lassen.

Nimmt der Veräußerer seine freiberufliche Tätigkeit nach einer gewissen Zeit wieder auf, kann dies im Übrigen auch dann schädlich sein, wenn die Wiederaufnahme zum Zeitpunkt der Übertragung der Praxis nicht geplant war. Maßgebend ist allein, ob es objektiv zu einer definitiven Übertragung der wesentlichen Praxisgrundlagen gekommen ist. Daran kann es allein durch die tatsächliche Wiederaufnahme der freiberuflichen Tätigkeit fehlen, auch wenn diese ursprünglich nicht geplant war. Maßnahmen des Veräußerers, die wegen einer von Anfang an geplanten Wiederaufnahme dazu dienen sollen, die spätere Zurückgewinnung der Mandanten zu erleichtern, können eine definitive Übertragung des Mandantenstamms von vorneherein ausschließen bzw. die erforderliche Zeitspanne für die Einstellung der Tätigkeit verlängern.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist für den Bundesfinanzhof im hier entschiedenen Fall die Würdigung des Finanzgerichts Köln[9] in der Vorinstanz, im Streitfall sei es wegen der Wiedereröffnung der Einzelpraxis nach 22 Monaten nicht zu einer definitiven Übertragung des Mandantenstamms auf den Erwerber und damit auch nicht zu einer tarifbegünstigten Praxisveräußerung gekommen, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Das Finanzgericht hat zutreffend berücksichtigt, dass der Kläger seine Einzelpraxis in derselben Stadt mit einem Teil seiner früheren Mitarbeiter wiedereröffnet hat und seine Tätigkeit sowie die Art und Struktur der Mandate gleich geblieben sind. Darüber hinaus hat das Finanzgericht zutreffend hervorgehoben, dass der Kläger seine früheren Mandanten auch während der 22 Monate bis zur Wiedereröffnung seiner Einzelpraxis als freier Mitarbeiter der S-KG beraten hatte. Zwar war dies für die Verwirklichung des Tatbestands einer Praxisveräußerung grundsätzlich unschädlich. Der fortdauernde Kontakt des Klägers zu seinen bisherigen Mandanten hatte aber zur Folge, dass die definitive Übertragung des Mandantenstamms auf die S-KG i.S. einer Festigung der persönlichen Mandatsbeziehungen längere Zeit in Anspruch nahm. Jedenfalls unter Berücksichtigung dieser Besonderheit reichte die Zeitspanne von 22 Monaten bis zur Wiedereröffnung der Einzelpraxis im Streitfall nicht aus, um zu einer definitiven Übertragung des Mandantenstamms zu führen.

Dass der Kläger im Streitfall allein deshalb wieder im Rahmen einer Einzelpraxis tätig geworden ist, weil es im Januar 2010 zu einem Zerwürfnis mit der S-KG kam, spielt entgegen der Auffassung des Klägers keine Rolle. Maßgebend ist allein, dass die Zeitspanne von 22 Monaten im konkreten Streitfall nicht ausreichte, um zu einer definitiven Übertragung des Mandantenstamms zu führen. Allerdings sind die Tatbestandsmerkmale des § 18 Abs. 3 EStG nicht nachträglich entfallen, sondern die Verwirklichung des Tatbestands des § 18 Abs. 3 EStG ließ sich erst nach einem gewissen Zeitablauf abschließend beurteilen.

Darüber hinaus spielt im Streitfall auch die vom BFH entwickelte Geringfügigkeitsgrenze keine Rolle. Nach den eigenen Angaben des Klägers erreichte er mit denjenigen Mandanten, die nach der Wiedereröffnung der Einzelpraxis zu ihm zurückkehrten, mehr als 50 % seines ehemaligen Umsatzes.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 21. August 2018 – VIII R 2/15

  1. Anschluss an BFH, Urteile vom 10.06.1999 – IV R 11/99, BFH/NV 1999, 1594; vom 29.06.1994 – I R 105/93, BFH/NV 1995, 109; vom 18.05.1994 – I R 109/93, BFHE 175, 249, BStBl II 1994, 925[]
  2. BFH, Urteile vom 10.06.1999 – IV R 11/99, BFH/NV 1999, 1594; vom 29.06.1994 – I R 105/93, BFH/NV 1995, 109; vom 18.05.1994 – I R 109/93, BFHE 175, 249, BStBl II 1994, 925, jeweils m.w.N.[]
  3. BFH, Urteile in BFH/NV 1999, 1594; in BFH/NV 1995, 109; in BFHE 175, 249, BStBl II 1994, 925, jeweils m.w.N.; gl.A. Schmidt/Wacker, EStG, 37. Aufl., § 18 Rz 225; kritisch Siewert in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 18 Rz 117[]
  4. BFH, Urteile vom 17.07.2008 – X R 40/07, BFHE 222, 433, BStBl II 2009, 43; in BFH/NV 1995, 109; in BFHE 175, 249, BStBl II 1994, 925[]
  5. BFH, Beschluss vom 29.05.2008 – VIII B 166/07, BFH/NV 2008, 1478[]
  6. vgl. BFH, Urteil in BFH/NV 1999, 1594; BFH, Beschlüsse vom 07.11.2006 – XI B 177/05, BFH/NV 2007, 431; vom 01.12 2005 – IV B 69/04, BFH/NV 2006, 298[]
  7. BFH, Urteile in BFH/NV 1995, 109; in BFHE 175, 249, BStBl II 1994, 925; offen gelassen für die Weiterbeschäftigung des Veräußerers als freier Mitarbeiter im BFH, Urteil in BFH/NV 1999, 1594[]
  8. vgl. BFH, Beschluss vom 20.01.2009 – VIII B 58/08, BFH/NV 2009, 756; zum Streitstand Brandt in Herrmann/Heuer/Raupach, § 18 EStG Rz 324[]
  9. FG Köln, Urteil vom 03.12.2014 – 13 K 2231/12[]