Berufsgerichtliche Verfahren – und die Besorgnis der Befangenheit

Vor dem Bundesverfassungsgericht war die Verfassungsbeschwerde einer Ärztin gegen eine berufsgerichtliche Entscheidung mangels gerichtlicher Prüfung der möglichen Besorgnis der Befangenheit der an der Erteilung des Rügescheids mitwirkenden Personen erfolgreich:

Berufsgerichtliche Verfahren – und die Besorgnis der Befangenheit

Der Ausgangssachverhalt

Die beschwerdeführende, selbständige Ärztin betrieb im hier relevanten Zeitraum eine Gemeinschaftspraxis mit einem Kollegen. Im Anschluss an drei Kontrollen der Praxis durch das örtliche Ordnungsamt und das Gesundheitsamt verpflichtete der Landkreis die Ärztin mit Bescheid vom 19.05.2020, verschiedene Hygienemaßnahmen zu beachten, insbesondere ausreichende Abstände im Wartezimmer der Praxis zu gewährleisten und das Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen durch Mitarbeiter und Patienten sicherzustellen. Sie wurde zudem aufgefordert, keine Schilder des Inhalts, dass in den Räumlichkeiten keine Maskenpflicht gelte, aufzuhängen. In der Praxis seien bei den Kontrollen keine hinreichenden Abstände zwischen den Stühlen im Wartezimmer gewährleistet gewesen. Mehrere anwesende Personen hätten keine Mund-Nase-Bedeckungen getragen. Vielmehr hätten Schilder darauf hingewiesen, dass in der Praxis keine Maskenpflicht gelte. Der Mitinhaber der Praxis habe in einem Gespräch versichert, allein die Ärztin, deren Auffassung er nicht teile, sei dafür verantwortlich. In der Begründung des Bescheids wird weiter ausgeführt, die Ärztin habe die geltende Verordnung zur Bekämpfung des Coronavirus mit „den Machenschaften der Gestapo“ verglichen und sich gegenüber den kommunalen Bediensteten bedrohlich geäußert. Der Landkreis informierte die Landesärztekammer Rheinland-Pfalz vom Ergebnis der Kontrollen. Daraufhin kam es zu einem persönlichen Gespräch der Ärztin mit dem Präsidenten und dem Hauptgeschäftsführer der Landesärztekammer. In dessen Verlauf erklärte der Präsident, es werde ein berufsrechtliches Verfahren gegen die Ärztin eingeleitet werden, wenn sie sich nicht bei „allen Beteiligten, zu denen der Vergleich mit der Gestapo gezogen wurde, “ schriftlich entschuldige, was die Ärztin ablehnte.

Im Rahmen ihrer schriftlichen Anhörung zur Einleitung berufsrechtlicher Maßnahmen sowie zu einer beabsichtigen Erteilung einer Rüge und Verhängung eines Ordnungsgelds lehnte die Ärztin den Präsidenten und den Geschäftsführer der Landesärztekammer wegen der Besorgnis der Befangenheit ab. Hierbei bezog sie sich unter anderem auf den Verlauf des vorangegangenen Gesprächs. Nach einstimmigem Beschluss des Vorstands erließ die Landesärztekammer – unter dem Briefkopf und mit Unterschrift des Präsidenten – den angegriffenen Bescheid vom 12.11.2020, mit dem der Ärztin gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Heilberufsgesetz (HeilBG) eine Rüge erteilt und ein Ordnungsgeld in Höhe von 15.000 Euro auferlegt wurde. Die Ärztin habe gegen § 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 5 der Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Rheinland-Pfalz (BerufsO) verstoßen, indem sie die nach der jeweils geltenden Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz (CoBeLVO) erforderlichen Hygienemaßnahmen nicht ergriffen und durch Aushänge darauf hingewiesen habe, dass in ihrer Praxis „keine Maskenpflicht“ gelte. Bei einer Kontrolle habe die Ärztin Vergleiche „mit den Machenschaften der Gestapo“ gezogen. Der Präsident und der Hauptgeschäftsführer seien nicht befangen. Den dagegen gerichteten Einspruch wies die Landesärztekammer zurück.

Die Entscheidung des Berufsgerichts

Die Ärztin beantragte daraufhin die Entscheidung des Berufsgerichts für Heilberufe. Das Berufsgericht bestätigte die durch die Landesärztekammer erteilte Rüge und das verhängte Ordnungsgeld[1]. Soweit die Ärztin den Präsidenten wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt habe, habe der Vorstand der Landesärztekammer das Gesuch als Ausschuss im Sinne des § 88 VwVfG gemäß § 21 Abs. 2[2] VwVfG abgelehnt.

Die Ärztin habe schuldhaft gegen § 21 Abs. 1 HeilBG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 [gemeint wohl: Abs. 2] und 5 BerufsO verstoßen. Sie habe nach § 2 Abs. 5 BerufsO die für ihre Berufsausübung geltenden Vorschriften einzuhalten. § 1 Abs. 4 der 6. und 7. CoBeLVO verpflichte Einrichtungen des Gesundheitswesens zur Einhaltung der notwendigen Hygieneanforderungen. Patientinnen und Patienten seien zum Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen in Wartesituationen verpflichtet. Absatz 2 Satz 2 Nr. 3 [gemeint wohl: Nr. 4] derselben Vorschrift verpflichte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter grundsätzlich ebenfalls zum Tragen solcher Bedeckungen. Es gelte ein Mindestabstand von 1, 5 m in Wartesituationen. Die Ärztin habe gegen ihre Berufspflicht, die Einhaltung der Abstände und der Maskenpflicht sicherzustellen, schuldhaft verstoßen.

Das verhängte Ordnungsgeld sei seiner Höhe nach angemessen. Die Ärztin erhob Anhörungsrüge, Gegenvorstellung und Beschwerde sowie eine Nichtigkeitsklage. Das Berufsgericht wies diese Rechtsbehelfe zurück[3] zurück.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Ärztin unter anderem eine Verletzung von Art.19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 2 GG. Das Berufsgericht habe Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt, indem es die Besorgnis der Befangenheit des Präsidenten und des Hauptgeschäftsführers der Landesärztekammer nicht selbst überprüft, sondern lediglich auf die ablehnende Entscheidung des Vorstands der Landesärztekammer abgestellt habe. Ein weiterer Verstoß gegen Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG liege darin, dass das Berufsgericht die Verfassungsmäßigkeit der zugrundeliegenden Landesverordnung nicht geprüft habe. Die Sanktionierung durch die Landesärztekammer falle in den Schutzbereich von Art. 103 Abs. 2 GG. Es habe aber keine gesetzliche Grundlage dafür bestanden, da die Landesverordnung gerade keine Pflichten der Ärzteschaft zur Durchsetzung der Maskenpflicht gegenüber Patientinnen und Patienten enthalte. Adressaten der Maskenpflicht seien vielmehr allein die Patienten selbst.

Das Bundesverfassungsgericht gab der Ärztin Recht, stellte die Verletzung in ihrem Grundrecht aus Art.19 Abs. 4 S. 1 GG fest, hob den Beschluss des Berufsgerichts für Heilberufe auf und verwies die Sache zurück an das Berufsgericht:

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet, soweit die Ärztin die Verletzung des Grundrechts auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes durch den angegriffenen Beschluss des Berufsgerichts vom 08.07.2021 rügt, weil das Berufsgericht die mögliche Besorgnis der Befangenheit des Präsidenten der Landesärztekammer nicht geprüft hat. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung durch die Kammer liegen insoweit vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde ist nur insoweit zulässig, als sie die behauptete Verletzung von Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG durch den Beschluss des Berufsgerichts vom 08.07.2021 im Zusammenhang mit der geltend gemachten Besorgnis der Befangenheit des Präsidenten der Landesärztekammer betrifft. Im Übrigen genügt sie nicht den Begründungsanforderungen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG.

Zu den Anforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde, die sich gegen gerichtliche Entscheidungen richtet, zählt eine ins Einzelne gehende argumentative Auseinandersetzung mit den angegriffenen Entscheidungen, die deutlich macht, inwieweit das bezeichnete Grundrecht oder grundrechtsgleiche Recht verletzt sein soll und mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die Entscheidungen kollidieren[4]. Soweit das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, muss anhand dieser Maßstäbe dargelegt werden, inwieweit Grundrechte durch die angegriffenen Maßnahmen verletzt werden[5].

Diesen Anforderungen genügt die Verfassungsbeschwerde nicht, soweit die Ärztin auch die fehlende gerichtliche Überprüfung ihres gegen den Hauptgeschäftsführer der Landesärztekammer gerichteten Ablehnungsgesuchs rügt. Insoweit zeigt sie nicht auf, welche verfassungsrechtliche Relevanz dem zukommen sollte, da der Hauptgeschäftsführer dem Vorstand der Landesärztekammer, welcher gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 HeilBG für die Erteilung von Rügen und die Verhängung von Ordnungsgeldern zuständig ist, nicht angehört und er damit am Erlass der angegriffenen Bescheide nicht beteiligt gewesen ist.

Soweit die Ärztin eine Reihe von Verletzungen in Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten geltend macht, setzt sie sich nicht in hinreichender Tiefe mit den angegriffenen Hoheitsakten auseinander und zeigt nicht auf, mit welchen konkreten verfassungsrechtlichen Anforderungen sie nicht in Einklang stehen sollten. Insbesondere geht sie nicht auf die jeweiligen Gehalte der geltend gemachten Rechte ein, weshalb es ihr nicht gelingt, weitere mögliche Verletzungen von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten aufzuzeigen.

Die unzureichende Begründung der Verfassungsbeschwerde erstreckt sich auch auf die gerügten weiteren Verletzungen von Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG – soweit die Ärztin dem Berufsgericht vorwirft, die Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz nicht inzident auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft zu haben – sowie von Art. 103 Abs. 2 GG.

Zwar wäre es angesichts der grundsätzlich umfassenden Reichweite der Rechtsschutzgarantie des Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG[6] verfassungsrechtlich bedenklich, wenn das Berufsgericht eine inzidente Prüfung der untergesetzlichen Verordnung auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht bewusst unterlassen hätte, weil es der Ansicht gewesen wäre, eine Pflichtverletzung der Ärztin unabhängig von der Verfassungsmäßigkeit der Verordnung annehmen zu können[7]. Die Ärztin befasst sich insoweit aber nicht damit, inwiefern der Verweis des Berufsgerichts auf Entscheidungen verschiedener Verwaltungsgerichte auch so verstanden werden könnten, als schlösse es sich deren Einschätzung zur Verfassungsmäßigkeit der Verordnung an.

Auch in Bezug auf die Rüge, insbesondere die Verhängung des Ordnungsgelds verletze das sogenannte strafrechtliche Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG, fehlt es an hinreichenden Darlegungen der Ärztin.

Zwar bezieht sich die Garantie des Art. 103 Abs. 2 GG nicht nur auf Regelungen des materiellen Strafrechts, sondern erfasst auch berufsrechtliche Sanktionen, selbst wenn dabei „gewisse Einschränkungen, die sich aus der Natur des Rechtsgebiets ergeben“, bestehen können[8]. Es liegt auch nicht von vornherein auf der Hand, dass die die Berufspflichtverletzung begründende Normkette aus § 24 Abs. 1 Nr. 1 HeilBG, § 2 Abs. 5 Alt. 2 BerufsO und § 1 Abs. 4 Satz 1 und 2 der 7. CoBeLVO den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG in jeder Hinsicht genügt. Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Anforderungen an Vorschriften, die die Blankettstrafnormen ausfüllen[9], sowie dem gerichtlichen Präzisierungsgebot bei der Handhabung weit gefasster Tatbestände[10] gilt dies insbesondere für das Zusammenwirken der jeweils bereits für sich tatbestandlich weit gefassten § 2 Abs. 5 Alt. 2 BerufsO und § 1 Abs. 4 Satz 1 der 7. CoBeLVO.

Der Ärztin gelingt es gleichwohl nicht, einen möglichen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG entsprechend der Anforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG darzulegen. So geht sie insbesondere nicht darauf ein, inwiefern § 1 Abs. 4 Satz 1 der 7. CoBeLVO die von ihr in Abrede gestellten Pflichten von Betriebsinhabern, die Einhaltung anderer Vorschriften der Verordnung durch Patienten und Mitarbeiter sicherzustellen, im Wege der Auslegung entnommen werden könnte. Dabei übersieht sie zudem, dass die Verordnung jedenfalls eine Pflicht, die Wahrung der Abstände durch Dritte über die doppelte Verweisung von § 1 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 über § 1 Abs. 2 Satz 3 auf § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 der 7. CoBeLVO ausdrücklich enthält, und setzt sich dementsprechend mit den verfassungsrechtlichen Folgen dieser Regelung nicht auseinander. Ebenfalls übersieht sie, dass die Verletzung der Berufspflicht hier auch darauf gestützt wurde, dass die Ärztin für die Aushänge verantwortlich sei, in denen verlautbart wurde, in ihrer Praxis bestehe keine Maskenpflicht.

Jedenfalls aber geht die Ärztin weder auf die Anforderungen ein, die aus Art. 103 Abs. 2 GG für die Sanktionierung berufsrechtswidrigen Verhaltens und insbesondere die Schaffung von Blankettstrafnormen zu entnehmen sind, noch befasst sie sich mit den verfassungsrechtlichen Fragen, die die weite tatbestandliche Fassung von § 2 Abs. 5 Alt. 2 BerufsO als Anknüpfungspunkt für die ihr vorgeworfene Berufspflichtverletzung aufwirft. Vortrag dazu wäre aber insbesondere deshalb geboten gewesen, weil unklar bleibt, inwiefern die zum materiellen Strafrecht entwickelten Maßstäbe auf die Ahndung berufsrechtlicher Pflichtverletzungen, bei der beispielsweise die Regelung von Berufspflichten in Form von Generalklauseln grundsätzlich anerkannt ist[11], zu übertragen sind.

Begründetheit der Verfassungsbeschwerde – und der Grundsatz effektiven Rechtsschutzes

Im Umfang ihrer Zulässigkeit ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet. Der angegriffene Beschluss des Berufsgerichts vom 08.07.2021 verletzt die Ärztin in ihrem Grundrecht aus Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG.

Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden. Aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes folgt grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen[12]. Das schließt nicht aus, dass der Gesetzgeber die Rechtskontrolle durch die Gerichte einschränkt. Ob dies der Fall ist, muss sich jedoch ausdrücklich aus dem Gesetz ergeben oder durch Auslegung hinreichend deutlich zu ermitteln sein. Demgegenüber kann es weder der Verwaltung noch den Gerichten überlassen werden, ohne gesetzliche Grundlage durch die Annahme behördlicher Letztentscheidungsrechte die Grenzen zwischen Gesetzesbindung und grundsätzlich umfassender Rechtskontrolle der Verwaltung zu verschieben. Andernfalls könnten diese „in eigener Sache“ die grundgesetzliche Rollenverteilung zwischen Exekutive und Judikative verändern. Nimmt ein Gericht ein behördliches Letztentscheidungsrecht an, das mangels gesetzlicher Grundlage nicht besteht, und unterlässt es deshalb die vollständige Prüfung der Behördenentscheidung auf ihre Gesetzmäßigkeit, steht dies nicht nur in Widerspruch zur Gesetzesbindung der Gerichte (Art.20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG), sondern verletzt vor allem das Versprechen wirksamen Rechtsschutzes aus Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG[13].

Danach verletzt der Beschluss des Berufsgerichts vom 08.07.2021 die Ärztin in ihrem Recht aus Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG.

Wird eine Behördenentscheidung durch einen Amtsträger getroffen, bei dem die Besorgnis der Befangenheit nach § 21 Abs. 1 VwVfG (hier in Verbindung mit § 1 Abs. 1 VwVfG ) anzunehmen ist, so stellt dies einen Verstoß gegen Verfahrensvorschriften dar und hat die formelle Rechtswidrigkeit der behördlichen Entscheidung zur Folge[14]. Das gilt auch dann, wenn die Behördenleitung eine nach § 21 Abs. 1 Satz 1 VwVfG erforderliche Anordnung an den Amtsträger, sich der Mitwirkung an dem Verfahren zu enthalten, nicht erlassen hat. Steht die Besorgnis der Befangenheit des Mitglieds eines Ausschusses im Sinne von § 88 VwVfG im Raum, so entscheidet gemäß § 21 Abs. 2 in Verbindung mit § 20 Abs. 4 Satz 2 VwVfG anstatt der Behördenleitung der Ausschuss über den Ausschluss des betroffenen Mitglieds. Dem Ausschuss steht bei seiner Entscheidung über den Ausschluss eines Mitglieds kein Beurteilungs- oder Ermessensspielraum zu; seine Entscheidung ist gerichtlich voll überprüfbar[15].

Eine solche gerichtliche Überprüfung ist hier nicht erfolgt. Das Berufsgericht führt zu der geltend gemachten Besorgnis der Befangenheit des Präsidenten lediglich aus, der Vorstand der Landesärztekammer habe das Gesuch in seiner Sitzung am 4.11.2020 abgelehnt. Insoweit ist schon nicht ersichtlich, auf welcher Grundlage das Berufsgericht diese Feststellung trifft, da sich Ausführungen dazu lediglich in dem – offenkundig von dem Präsidenten selbst verfassten – angegriffenen Bescheid vom 12.11.2020 finden, nicht aber in dem Protokoll der in Bezug genommenen Vorstandssitzung am 4.11.2020. Jedenfalls aber sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen schon deshalb nicht gewahrt, weil das Berufsgericht keine eigenständige Prüfung der etwaigen Besorgnis der Befangenheit des Präsidenten vorgenommen hat, sondern durch seine bloße Bezugnahme erkennbar von einem Letztentscheidungsrecht des Vorstands der Landesärztekammer als dem zuständigen Ausschuss ausgegangen ist. Auch Anhaltspunkte dafür, dass das Berufsgericht sich nach einer eigenständigen inhaltlichen Prüfung der geltend gemachten Besorgnis der Befangenheit einer etwaigen Begründung des Vorstands der Landesärztekammer habe anschließen wollen, fehlen.

Das Berufsgericht ist offenkundig auch nicht der Ansicht gewesen, eine Entscheidung über den Ausschluss des Präsidenten der Landesärztekammer habe aus anderen rechtlichen Gründen dahinstehen können. Zwar kommt es grundsätzlich in Betracht, dass der etwaige Verfahrensfehler, der in der Mitwirkung des Präsidenten liegen könnte, nach § 46 VwVfG unbeachtlich sein könnte. Diese Auffassung vertritt das Berufsgericht aber gerade nicht.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Ärztin aus Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG.

Dem steht nicht entgegen, dass ein die Annahme der Verfassungsbeschwerde begründender besonders schwerer Nachteil dann nicht anzunehmen ist, wenn deutlich abzusehen ist, dass Beschwerdeführende auch im Falle einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg hätten[16]. Das trifft hier aber nicht zu.

Gemäß § 46 VwVfG wäre eine etwaige Besorgnis der Befangenheit eines mitentscheidenden Mitglieds als Verfahrensfehler dann unbeachtlich, wenn offensichtlich wäre, dass sie die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Im Sinne des § 46 VwVfG offensichtlich ohne Einfluss auf die Entscheidung ist ein formeller Fehler aber nur, wenn bei einer hypothetischen Betrachtung zweifelsfrei anzunehmen ist, dass ohne den Fehler dieselbe Entscheidung getroffen worden wäre[17]. Liegt ein nach § 46 VwVfG zu beurteilender Verfahrensfehler in der Teilnahme einer aufgrund der Besorgnis der Befangenheit ausgeschlossenen Person an einer Ausschussentscheidung, so lässt sich anhand des konkreten Beratungsverlaufs und des Abstimmungsergebnisses feststellen, ob und welchen Einfluss die betroffene Person auf die Entscheidung gehabt hat[18].

Danach ist nicht hinreichend deutlich abzusehen, dass die Ärztin auch im Falle einer Zurückverweisung an das Berufsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben wird. Trotz Einstimmigkeit der Entscheidung des Vorstands kann nicht in der gebotenen Deutlichkeit davon ausgegangen werden, dass das Berufsgericht seinerseits zweifelsfrei annehmen wird, dass der Vorstand auch ohne Mitentscheidung des Präsidenten der Landesärztekammer nach Art und Höhe dieselbe Entscheidung getroffen hätte. Dies ist schon deshalb nicht der Fall, weil aus der Ergebnisniederschrift der Landesärztekammer über das persönliche Gespräch des Präsidenten mit der Ärztin sowie dem von der Ärztin vorgelegten Transkript des Gesprächs hervorgeht, dass er es war, der über den weiteren Fortgang des Verfahrens bestimmen sollte.

Danach war festzustellen, dass der Beschluss des Berufsgerichts die Ärztin in ihrem Grundrecht aus Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Der Beschluss war aufzuheben und die Sache an das Berufsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG). Der Beschluss des Berufsgerichts vom 19.08.2021 über die Anhörungsrüge wurde damit gegenstandslos.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 9. November 2022 – 1 BvR 2263/21

  1. Berufsgericht für Heilberufe bei dem Verwaltungsgericht Mainz, Beschluss vom 08.07.2021 – BG-H 3/21.MZ[]
  2. in Verbindung mit § 20 Abs. 4[]
  3. Berufsgerichts für Heilberufe bei dem VG Mainz, Beschluss vom 19.08.2021 – BG-H 3/21.MZ[]
  4. vgl. BVerfGE 6, 132 <134> 99, 84 <87> 140, 229 <232 Rn. 9> stRspr[]
  5. BVerfGE 140, 229 <232 Rn. 9> mit Verweis auf BVerfGE 99, 84 <87> stRspr[]
  6. vgl. BVerfGE 129, 1 <20> m.w.N.; 149, 407 <413 Rn.19>[]
  7. vgl. BVerfGK 16, 418 <442>[]
  8. vgl. BVerfGE 26, 186 <203 f.> 33, 125 <164> vgl. zu Disziplinarmaßnahmen im Strafvollzug auch BVerfGE 116, 69 <82 f.>, wonach Art. 103 Abs. 2 GG „grundsätzlich“ auch für „Disziplinarstrafen“ gilt[]
  9. vgl. BVerfGE 143, 38 <57 Rn. 46> 153, 310 <344 Rn. 82>[]
  10. vgl. BVerfGE 126, 170 <198 f.> m.w.N.[]
  11. vgl. BVerfGE 66, 337 <355> m.w.N.; 76, 171 <186, 188 f.>[]
  12. BVerfGE 149, 407 <413 Rn.19> mit Verweis auf BVerfGE 129, 1 <20> m.w.N.[]
  13. vgl. BVerfGE 129, 1 <21 f.> m.w.N.[]
  14. vgl. zu Sachverständigen BVerwG, Beschluss des 9. Bundesverfassungsgerichts vom 18.06.2007 – 9 VR 13/06, Rn. 6; vgl. im Übrigen Schuler-Harms, in: Schoch/Schneider, VwVfG, § 21 Rn. 41 ; Ziekow, VwVfG, 4. Aufl.2020, § 21 Rn. 8[]
  15. vgl. Heßhaus, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, 53. Ed., § 20 Rn. 50 ; Fehling, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl.2021, § 20 VwVfG Rn. 56 m.w.N.[]
  16. vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>[]
  17. vgl. BVerwGE 142, 205 <210 f. Rn.20> OVG Münster, Beschluss vom 26.05.2014 – 19 B 203/14, Rn. 29[]
  18. vgl. OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.05.2014 – 19 B 203/14, Rn. 31[]