Rechtliches Gehör – und der unerledigte Beweisbeschluss

Hat das Finanzgericht einen Zeugen zur mündlichen Verhandlung geladen und will es von der Vernehmung des Zeugen absehen, muss es die Beteiligten vor Erlass des Urteils unmissverständlich darauf hinweisen. Unterbleibt dieser Hinweis, verletzt das Finanzgericht den Anspruch auf rechtliches Gehör.

Diesem Urteil des Bundesfinanzhofs lag ein Verfahren vor dem Finanzgericht Berlin-Brandenburg zugrunde. Dieses hatte den Zeugen durch Beweisbeschluss zur mündlichen Verhandlung geladen, um zu einem näher bezeichneten Beweisthema auszusagen. Trotz ordnungsgemäßer Ladung erschien der Zeuge nicht. In der mündlichen Verhandlung beantragte der Kläger hilfsweise, den Zeugen erneut zur Verhandlung zu laden und zu dem bereits benannten Beweisthema einzuvernehmen. Aufgrund der mündlichen Verhandlung wies das Finanzgericht die Klage zu dem Streitpunkt, zu dem der Zeuge vernommen werden sollte, ab[1]. Hiergegen wandte sich der Kläger mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, mit der er unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 19.09.2014[2] rügt, dass das Finanzgericht verfahrensfehlerhaft im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor Erlass des Urteils nicht mitgeteilt habe, dass es nicht mehr beabsichtige, dem Beweisbeschluss nachzukommen. Diese Nichtzulassungsbeschwerde führte zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 FGO:

Der vom Kläger geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) liegt vor. Hat das Finanzgericht einen Zeugen zur mündlichen Verhandlung geladen und will es von der Vernehmung des Zeugen absehen, muss es die Beteiligten vor Erlass des Urteils unmissverständlich darauf hinweisen. Unterbleibt dieser Hinweis, verletzt das Finanzgericht den Anspruch auf rechtliches Gehör.

Nach ständiger BFH-Rechtsprechung entsteht durch einen (förmlichen) Beweisbeschluss eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht ergehen wird, bevor der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine angeordnete Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. Will es von einer (weiteren) Beweisaufnahme absehen, muss es aber vor Erlass des Urteils die von ihm durch den Beweisbeschluss geschaffene Prozesslage wieder beseitigen. Dazu hat es für die Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachtet[3]. Dasselbe gilt, wenn kein Beweisbeschluss ergangen ist, sondern ein Zeuge gemäß § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 FGO zur mündlichen Verhandlung geladen wurde, wie es hier der Fall war. Auch in einem solchen Fall können die Beteiligten grundsätzlich davon ausgehen, dass das Gericht die Zeugenvernehmung als erforderlich erachtet und kein Urteil erlässt, bevor diese durchgeführt worden ist. Will das Gericht von der Vernehmung eines geladenen und beispielsweise zum Termin nicht erschienenen Zeugen absehen, muss es die Beteiligten vor Erlass des Urteils unmissverständlich darauf hinweisen; es sei denn, das Gericht kann aufgrund besonderer objektiver Umstände ausnahmsweise davon ausgehen, dass sich die Beweisaufnahme auch aus Sicht der Beteiligten zweifelsfrei erledigt hat, ohne dass es eines entsprechenden gerichtlichen Hinweises bedürfte. Unterbleibt ein danach gebotener Hinweis, verletzt das Finanzgericht den Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß § 96 Abs. 2 FGO und Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes[4]. Der Hinweis kann schriftlich oder in der mündlichen Verhandlung mündlich erteilt werden. Ein mündlich erteilter Hinweis ist als wesentlicher Vorgang der Verhandlung in das Protokoll aufzunehmen (§ 94 FGO i.V.m. § 160 Abs. 2 ZPO).

Das Finanzgericht hat demnach dadurch den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 96 Abs. 2 FGO) verletzt, dass es die Vorentscheidung erlassen hat, ohne die Beteiligten zuvor unmissverständlich darauf hingewiesen zu haben, dass es nicht mehr beabsichtige, den Zeugen zu vernehmen, nachdem das Finanzgericht den Zeugen unter Angabe des Beweisthemas zur mündlichen Verhandlung geladen hatte. Der Kläger durfte deshalb davon ausgehen, dass das Finanzgericht vor der Vernehmung des Zeugen kein Urteil erlassen werde. Ein schriftlicher Hinweis findet sich nicht in den Akten; ein mündlich erteilter Hinweis ist dem Protokoll nicht zu entnehmen. Das Original des Sitzungsprotokolls erbringt insofern auch den negativen Beweis (§ 94 FGO i.V.m. § 165 ZPO), dass der Hinweis unterblieben ist.

Ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass der Zeuge nicht mehr habe vernommen werden sollen, war auch nicht entbehrlich. Weder aus den Akten noch aus der Sitzungsniederschrift ist ersichtlich, dass es auch aus der Sicht der Beteiligten zweifelsfrei gewesen sei, dass sich die zunächst beabsichtigte Vernehmung des Zeugen erledigt habe. Dass dieser Zeuge zur mündlichen Verhandlung entschuldigt nicht erschienen war, begründete für sich genommen keine Erledigung einer Beweisaufnahme durch Vernehmung des Zeugen[5].

Auf dem Verfahrensmangel kann das Urteil beruhen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Bei Annahme einer Gehörsverletzung ergibt sich dies unmittelbar aus § 119 Nr. 3 FGO. Aber selbst, wenn § 119 Nr. 3 FGO nicht anwendbar wäre, ist das Beruhen zu bejahen, da hierfür die vorliegend zu bejahende Möglichkeit ausreicht, dass die Entscheidung bei Erhebung des Beweises anders ausgefallen wäre[6]. Dabei berücksichtigt der Bundesfinanzhof, dass das Finanzgericht seine Entscheidung auch mit ernstlichen Zweifeln an der tatsächlichen Leistungserbringung begründet und den Kläger dabei zudem als „feststellungsbelastet“ angesehen hat[7]. Insoweit besteht zumindest die Möglichkeit, dass eine Beweiserhebung zum Beweisthema „…-Dienstleistungen der N-GmbH an den Kläger“ zu einer anderen Beurteilung geführt hätte. Hat das Finanzgericht somit -aufgrund der von ihm durch die Ladung geschaffenen Prozesssituation- die von ihm als entscheidungserheblich angesehene Leistungserbringung verfahrensfehlerhaft verneint, kommt es auf die weiteren Überlegungen des Finanzgerichts zur Unzulässigkeit eines Zeugenbeweises zu „materiellen Vorsteuerabzugsvoraussetzungen“ nicht an.

Der Kläger hat auch entgegen der Ansicht des Finanzamtes nicht wirksam auf die Zeugenvernehmung des von ihm benannten Zeugen verzichtet und kann sich deshalb auf den Verfahrensmangel berufen. Ein Rügeverzicht[8] kommt vorliegend bereits grundsätzlich nicht in Betracht, da die Beteiligten ohne einen ausdrücklichen Hinweis des Gerichts mit einem Wechsel in der erklärten Auffassung des Gerichts nicht zu rechnen brauchen[9]. Zudem hat der Kläger ausdrücklich in der mündlichen Verhandlung hilfsweise die Vernehmung des Zeugen beantragt, wie sich aus dem Sitzungsprotokoll ergibt.

Ob darüber hinaus ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht vorliegen könnte[10], den das Finanzamt verneint, ist nicht zu entscheiden.

Der Bundesfinanzhof hielt es für sachgerecht, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht zurückzuverweisen.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 4. April 2024 – V B 12/23

  1. FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.01.2023 – 5 K 5166/20[]
  2. BFH, Beschluss vom 19.09.2014 – IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214[]
  3. vgl. BFH, Beschlüsse vom 19.09.2014 – IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214, Rz 8; vom 11.10.2016 – III B 21/16, BFH/NV 2017, 315, Rz 11; vom 29.10.2015 – X B 55/15, BFH/NV 2016, 218, Rz 12; und vom 11.05.2015 – XI B 29/15, BFH/NV 2015, 1257, Rz 20[]
  4. BFH, Beschlüsse vom 19.09.2014 – IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214, Rz 9 und 11 sowie vom 11.10.2016 – III B 21/16, BFH/NV 2017, 315, Rz 9 und 12[]
  5. BFH, Beschluss vom 17.10.2013 – II B 31/13, BFH/NV 2014, 68, Rz 12[]
  6. vgl. BFH, Beschluss vom 19.09.2014 – IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214, Rz 13[]
  7. FG, Urteil S. 8, zweiter Absatz[]
  8. entsprechend § 295 ZPO[]
  9. vgl. BFH, Beschluss vom 19.09.2014 – IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214, Rz 14[]
  10. BFH, Beschlüsse vom 12.06.2012 – V B 128/11, BFH/NV 2012, 1804, Rz 9; und vom 24.07.2014 – V B 1/14, BFH/NV 2014, 1763, Rz 8 ff.[]