Die Schätzung durch das Finanzgericht – als Überraschungsentscheidung

Das Finanzgericht ist im Rahmen der gebotenen Gewährung rechtlichen Gehörs grundsätzlich nicht gehalten, die Beteiligten darauf hinzuweisen, dass es von seiner eigenen gesetzlichen Schätzungsbefugnis nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO i.V.m. § 162 AO Gebrauch machen will.

Die Schätzung durch das Finanzgericht – als Überraschungsentscheidung

So wie aber die überraschende Einführung neuer rechtlicher Gesichtspunkte durch das Finanzgericht eine Verletzung rechtlichen Gehörs darstellen kann, gilt dies ebenso für die Anwendung bisher nicht erörterter Schätzungsmethoden, die in ihrer Qualität einem nicht erkennbaren, neuen rechtlichen Gesichtspunkt vergleichbar sind. Hieraus folgt indes noch nicht, dass das Finanzgericht jede Änderung oder Abwandlung der Schätzungsmethode vorweg offenlegen müsste, wenn und soweit die betreffenden Schätzungsmethoden einander ähnlich oder voneinander abgeleitet sind[1].

Allerdings ist nach diesen Maßstäben ein Hinweis nach § 76 Abs. 2 FGO geboten, wenn das Finanzgericht eine Schätzungsmethode anwenden will, die den bereits erörterten Schätzungsmethoden nicht mehr ähnlich ist oder für die die Einführung neuen Tatsachenstoffs erforderlich wird[2].

Nach diesem Maßstab lag in dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall weder eine Überraschungsentscheidung noch ein Verstoß gegen die Hinweispflicht gemäß § 76 Abs. 2 FGO vor, weil die Schätzungen des  Finanzamtes und des Finanzgerichts Münster[3] einander ähnlich waren und nicht der Einführung zusätzlichen Tatsachenstoffs bedurften:

Die Schätzung des Finanzamtes basiert auf einem Sicherheitszuschlag zu den erklärten Einnahmen, der sich -ohne eine konkrete Geldverkehrsrechnung- nach der Differenz zwischen den erklärten Einnahmen und dem typischen Finanzbedarf einer vierköpfigen Familie abzüglich von Abschlägen wegen der Besonderheiten des Streitfalls bemisst. Dass auch das Finanzgericht eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nach diesen Grundsätzen im Streitfall für möglich hielt, war für die Kläger während des Verfahrens daraus erkennbar, dass der zuständige Berichterstatter beim Finanzgericht in einem Erörterungstermin vom 06.02.2020 vorgeschlagen hatte, die Besteuerungsgrundlagen basierend auf dem durchschnittlichen Finanzbedarf für Familien, den das Finanzamt angesetzt hatte, jedoch abzüglich der durchschnittlichen Miete in Höhe von 836 € (mietfreies Wohnen wegen Eigentums) und eines Abschlags wegen sparsamer Lebensführung zu schätzen. Dies hatten die Kläger damals abgelehnt.

Auch das Finanzgericht hat im Rahmen seiner Schätzung die Besteuerungsgrundlagen anhand eines Sicherheitszuschlags ermittelt. Es hat den Streitfall zunächst dahingehend gewürdigt, in welchem Umfang sich aus nicht verbuchten und unklaren Zahlungseingängen nicht erklärte Betriebseinahmen des Klägers ergaben und dessen Buchführung zu verwerfen war; diese Relation hat es anschließend um einen Sicherheitszuschlag erhöht, der sich nach dem Verhältnis der nicht erklärten zu den erklärten betrieblichen Einnahmen und Umsätzen bemessen hat.

Danach waren die Schätzungsmethoden des Finanzamtes und des Finanzgericht einander ähnlich, denn die Verwendung eines Sicherheitszuschlags lässt sich jeweils als griffweise Schätzung charakterisieren, die in einem vernünftigen Verhältnis zu den erklärten oder nicht erklärten Einnahmen stehen muss[4]. Die Ermittlung des Verhältnisses der nicht erklärten zu den erklärten Einnahmen als Grundlage für den Sicherheitszuschlag des Finanzgericht beruhte im Streitfall auch nicht auf der Einführung neuen Tatsachenstoffs, sondern stellte sich als Folge der Würdigung der Umstände des Streitfalls durch das Finanzgericht dar.

Überdies spricht gegen die Annahme einer Überraschungsentscheidung und eines Verstoßes gegen die Hinweispflicht, dass das Finanzamt in der mündlichen Verhandlung zugesagt hat, die Bescheide der Streitjahre nach Maßgabe der im Schreiben vom 14.05.2020 geschätzten Besteuerungsgrundlagen zu ändern. Das Finanzgericht hat sich zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nur noch insoweit verhalten, als es gegenüber dem Schätzungsergebnis des Finanzamtes um eine noch weitergehende Minderung der geschätzten Besteuerungsgrundlagen ging. Dies hat das Finanzgericht mit der Erwägung verneint, dass es selbst zu einer höheren Hinzuschätzung als das Finanzamt gelangen würde. Es hat die Klage aufgrund der angekündigten Änderungsbescheide unter Hinweis auf den Rechtsgedanken des finanzgerichtlichen Verböserungsverbots mit der Maßgabe abgewiesen, dass über die in der Änderungszusage des Finanzamtes angesetzten geminderten Besteuerungsgrundlagen hinaus keine weitere Minderung der Besteuerungsgrundlagen in Betracht komme. Letztlich sind die Besteuerungsgrundlagen damit in Anlehnung an die Einigungsvorschläge des Berichterstatters und des Finanzamtes geschätzt worden, die den Klägern hinsichtlich der Schätzungsgrundlagen bekannt waren.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 7. Juni 2022 – VIII B 51/21

  1. vgl. BFH, Urteile vom 02.02.1982 – VIII R 65/80, BFHE 135, 158, BStBl II 1982, 409, unter 1.e; in BFH/NV 2020, 698, Rz 33[]
  2. vgl. BFH, Beschlüsse vom 10.09.2013 – XI B 114/12, BFH/NV 2013, 1947, Rz 12; vom 19.01.2018 – X B 60/17, BFH/NV 2018, 530, Rz 17; BFH, Urteile in BFHE 135, 158, BStBl II 1982, 409, unter 1.d; in BFH/NV 2020, 698, Rz 33[]
  3. FG Münster, Urteil vom 18.03.2021 – 8 K 3612/17 E, U[]
  4. vgl. z.B. BFH, Urteile vom 20.03.2017 – X R 11/16, BFHE 258, 272, BStBl II 2017, 992, Rz 51, m.w.N.; in BFH/NV 2018, 602, Rz 45; BFH, Beschlüsse vom 26.02.2018 – X B 53/17, BFH/NV 2018, 820, Rz 7; vom 14.01.2021 – X B 25/20, BFH/NV 2021, 680, Rz 12[]